»Ein Mann im Glück« – Predigt zum 6. Sonntag der Sommerkirche 2019

In der Predigtreihe über „Glücksmomente in der Bibel“ predigte Pastorin Ilse Landwehr-Wegner am 11. August 2019 unter dem Titel „Ein Mann im Glück“ über Markus 8, 22–26.

Sie kamen nach Betsaida. Da brachte man einen Blinden zu Jesus und bat ihn, er möge ihn berühren. Er nahm den Blinden bei der Hand, führte ihn vor das Dorf hinaus, bestrich seine Augen mit Speichel, legte ihm die Hände auf und fragte ihn: Siehst du etwas? Der Mann blickte auf und sagte: Ich sehe Menschen; denn ich sehe etwas, das wie Bäume aussieht und umhergeht. Da legte er ihm nochmals die Hände auf die Augen; nun sah der Mann deutlich. Er war geheilt und konnte alles ganz genau sehen. Jesus schickte ihn nach Hause und sagte: Geh aber nicht in das Dorf hinein!

Liebe Gemeinde!

Eine ganze Reihe von Ihnen wird es nicht gewundert haben, dass ich mir für diese letzte Predigt im Rahmen unserer Sommerkirche einen Predigttext ausgewählt habe, in dem es um einen Blinden geht, der einen – ja nicht nur irgendeinen – sondern wohl den Glücksmoment in seinem Leben erlebt – das große Glück, endlich wieder sehen zu können. Denn viele wissen, dass ich selbst vor einigen Wochen so einen ähnlichen Glücksmoment erleben durfte, nachdem ich an beiden Augen operiert wurde. Bei einer Operation gegen den Grauen Star bekam ich zwei neue Linsen eingesetzt und konnte auf einmal ohne Brille so gut sehen wie in den letzten 50 Jahren, also fast mein ganzes Leben lang, nicht. Mein Glücksmoment wurde mir schlicht durch zwei Augenoperationen kurz hintereinander  geschenkt. Ich bin froh und dankbar dafür, dass es so tolle Operationsmöglichkeiten gibt. Und … ich bin sensibler geworden dafür, was es heißt, wenn man so große Veränderungen hin zum Guten erleben darf … wahre Glücksmomente.

Darum habe ich mich auch mit dieser Geschichte aus der Bibel – erzählt vom Evangelisten Markus, aber auch zu finden in den Evangelien von Lukas, Matthäus und Johannes – intensiver beschäftigen wollen.
Ein Mann im Glück – einer, der ein Wunder erlebt – einer, der neu sehen lernt, einer, dessen Leben sich verändert. Diese Geschichte lag einfach nahe, auch wenn meine Heilung sicher keine Blindenheilung war und ich sie einem guten Operateur und nicht Jesus und einem Wunder zu verdanken habe … Ein Wunder war das nicht, würde ich sagen – nur viel handwerkliches Geschick und heutiges medizinisches Können und Wissen … ein Wunder vielleicht nur in dem Sinne, dass es einen auch schon verwundern kann, wozu der menschliche Geist fähig ist, was medizinisch inzwischen erforscht und selbstverständlich und in die Praxis umsetzbar ist – auch das grenzt für uns ja irgendwie an Wunder – und auch die gäbe es nicht, wenn wir Menschen nicht so einzigartig von Gott geschaffen wären – mit einem Verstand und Geist ausgestattet, der Großes möglich macht in dieser Hinsicht. Dafür bin ich zutiefst dankbar.

Doch nun zurück zur Geschichte selbst – denn irgendwie hat mich der Gedanke an diesen blinden Mann in Bethsaida nicht losgelassen – konnte ich mich doch so gut hineinversetzen in das, was er an Veränderung und Glück in seinem Leben erleben darf. Neu sehen dürfen in verschiedenster Hinsicht – ein paar Gedanken dazu möchte ich heute Morgen mit Ihnen teilen.

Alle vier Evangelisten berichten uns von Wundern Jesu, und zwar von ziemlich vielen Wundern. Solche Taten Jesu müssen den Evangelisten also wichtig gewesen sein. Jesus tat Wunder: Er heilte Kranke, Blinde, Lahme, Taubstumme, ja bis hin zur Rückholung Toter ins irdische Leben ging das; er trieb Dämonen aus und er tat sogenannte Naturwunder, als er den Sturm stillte oder über den See ging … so viele Menschen im Glück, so viele Glücksmomente durch Jesus – durch einen Glauben, den er schenkt.
Schöne und zum Teil anrührende Geschichten von glücklichen oder wieder glücklich gewordenen Menschen.

Aber sie lassen uns auch fragen – was steckt dahinter? Was ist mit diesen Wundern? Gab es die wirklich und warum erleben wir sie heute nicht mehr? Alles nur Geschichten – so ähnlich wie im Märchen?
Warum werden sie dann überhaupt immer noch erzählt und als wichtiger Bestandteil der Bibel betrachtet? Sind sie so etwas wie Märchen, die eine übertragene Botschaft transportieren wollen?

Markus schreibt zur Blindenheilung: Der Mann war geheilt und konnte am Ende alles ganz genau sehen.
Der Bericht von Markus, wörtlich genommen, widerspricht aller menschlichen Erfahrung. Hat Jesus tatsächlich einen Blinden geheilt, einfach so, mit Speichel, mit Handauflegung und mit der Frage „Siehst du etwas?“. Heilte Jesus etwa durch Magie, durch Zauberei? Denn als ursächliches Heilmittel gegen Blindheit ist Speichel nun wirklich zu schwach.

Was ist ein Wunder – was ist das Wunder? Bleiben wir zunächst dabei – was meinen wir eigentlich, wenn wir etwas ein Wunder nennen? Vom Wort her wäre das erst einmal etwas, worüber wir uns wundern. Meistens meinen wir, wenn wir von Wunder reden, eher etwas, das nach den Naturgesetzen praktisch nicht vorkommen kann, also unmöglich ist. Aber wir befinden uns mit dem Markusevangelium und allen anderen Evangelien und biblischen Büchern nicht in unserer Zeit des modernen Denkens und der Naturwissenschaft – mit diesem Denken an den Text heranzugehen wäre fatal und würde uns auf eine eher falsche Spur locken.

Der Evangelist Markus schreibt sein Evangelium um das Jahr 70 nach Christi Geburt – da kannte man noch überhaupt keine Naturgesetze. Die Welt war für die Menschen damals voller Mächte und Dämonen und die wirkten in der Welt. Solches Denken ist uns heute natürlich völlig fremd, aber um Markus zu verstehen, müssen wir um diesen Hintergrund wissen. Für ihn geht es um Mächte – um die der Finsternis, die Macht der Dämonen oder um die Macht Gottes, die sich in Jesus – in seinem Wort und seiner Tat – zeigt.

Darum die Heilung eines Blinden oder vor dieser Heilungsgeschichte erzählt, ein Dämon, der aus einem kleinen Mädchen ausgetrieben wird, ein Taubstummer, der wieder reden lernt, Kranke verschiedenster Art – psychisch und physisch, die gesund werden oder 4000 Menschen, die satt werden durch fünf Brote und zwei Fische. Staun- und Wundergeschichten für die Menschen damals.

„Wir haben Gottes Spuren festgestellt auf unsern Menschenstraßen. Liebe und Wärme in der kalten Welt, Hoffnung, die wir fast vergaßen. Zeichen und Wunder sahen wir geschehen in längst vergangnen Tagen. Gott wird auch unsre Wege gehen, uns durch das Leben tragen.“ – So haben wir gesungen. Ich versuche eine für uns heute eine Annährung an diese Wundergeschichte von der Blindenheilung.

Und mir fallen dazu verschiedene Dinge auf und ein:

Zunächst: Das Wunder geschieht durch eine Berührung – Jesus fasst den Blinden an, er benetzt seine Finger mit Speichel und legt sie ihm auf die Augen. Mich erinnert das an die Mutter, die den Mückenstich des Kindes mit ihrem eigenen Speichel benetzt und versucht den Schmerz zu nehmen.

Dann – das gelingt Jesus komischerweise nicht sofort – erst beim zweiten Versuch geschieht die Veränderung. Heilung erscheint hier wie ein Prozess, etwas, was dauert, nicht sofort passiert auf Knopfdruck sozusagen – das klingt also gar nicht so sehr nach einer mirakulösen Wende. Eine Zuwendung, der dann noch eine zweite folgen muss … so beschreibt es der Evangelist. Jesus wendet sich dem Blinden gleich zwei Mal zu mit aller Liebe und Behutsamkeit. Er legt noch Mal die Hände auf seine Augen. Und nun – ganz langsam – wird er ganz und gar „zurechtgebracht“, heißt es bezeichnenderweise.  Da hat man schon das Gefühl, es geht nicht nur um körperliche Heilung – jemanden zurechtbringen heißt für mich mehr als ihn nur gesund machen.

Wunder machen sehend – auf ganz verschiedene Weise. Manchmal wohl tatsächlich körperlich, weil sich neue Möglichkeiten auftun für Menschen – für den Blinden damals wie für uns heute. So wie ich sie erleben durfte – da war es nicht Jesus und auch nicht Speichel, sondern ein Operateur mit viel Können und Geschick. Ein Wunder? Das Wunder tut hier nicht der Arzt, finde ich, sondern Gott – der diesem Menschen so geschickte Hände gibt und überhaupt Menschen die Ideen schenkt, anderen zu helfen, Medizin voranzutreiben und zu heilen … Wir wissen auch – trotzdem bleiben die Möglichkeiten immer wieder beschränkt, denn nicht allen kann geholfen werden. Und auch durch Jesus wird nicht jedem geholfen – das läßt also nicht die Deutung zu: Damals konnte Jesus was, was wir heute nicht mehr können – Wunder scheinen einen anderen Sinn zu haben als nur vordergründig Menschen zu heilen. Damals wie heute wurden Menschen gesund und andere blieben krank.

Warum sind dann Wundergeschichte immer noch wichtig für uns? Warum ist es nötig, dass wir von einer Blindenheilung hören? Menschen blieben doch damals krank, blind, lahm und stumm – Ja, stimmt und trotzdem konnte sich was verändern. Denn Wunder machten und machen immer noch sehend und gehend – auch im übertragenen Sinne.

Ich möchte damit nicht Blindheit und Behinderung schön reden. Es ist und bleibt bitter, wenn keine Wunder möglich sind – wenn keine Operationen heilt und kein Medikament hilft, eine Situation sich nicht verändern läßt – jedenfalls nicht im Sinne einer Heilung. Aber ich möchte Ihnen trotzdem von eine anderen Art von Heilung erzählen … eine Geschichte, die mich ebenfalls nicht mehr losgelassen hat – eine Geschichte unserer Tage.

Diese Geschichte handelt von Andrea, die an einer Augenkrankheit leidet, die – als Kind sehend – sie im Laufe ihres Lebens immer weiter erblinden ließ. Sie lernt Erzieherin, kann aber irgendwann den Beruf nicht mehr ausüben, muss mit immer mehr Einschränkungen und Behinderung leben und wird blind. Aber erstaunlicherweise – und da sehe ich ihre Heilung im übertragenen Sinne – zerbricht sie nicht daran – sogar im Gegenteil. Andrea gehört zu den 80 Frauen, die in NRW ausgebildet wurden als medizinische Tastuntersucherinnen im Projekt „Discovering hands (Entdeckende Hände)“.
Diese Frauen können Brustkrebs wesentlich früher ertasten als Gynäkologen – schon Tumore ab 0,5 mm und nicht erst wie Ärzte ab 1 cm erfühlen.

Andrea sagt: „Hier kann ich mein Talent im Umgang mit Menschen einbringen, hier bin ich gefordert und werde gebraucht – hier kann ich sogar Leben retten und Menschen zur Heilung verhelfen. Ich hätte früher nie gedacht, dass ich es einmal schaffe, in einem derartigen Beruf zu arbeiten. Ich möchte anderen ein Vorbild sein und zeigen, dass man als Blinder nicht zuhause hocken muss. Und ich bin einfach glücklich, dass ich in so einem tollen Beruf gelandet bin.“

Glücksmomente – liebe Gemeinde – für diese junge Frau, deren Blindheit im körperlichen Sinne bleibt, deren Seele aber heil werden durfte – welch ein Glück für sie und welch ein Glück für so viele Frauen, denen sie helfen kann. Heilung und Glück hat wohl ziemlich viele verschiedene Gesichter – ob das die Bibel meint, wenn sie davon spricht, dass „Menschen zurecht gebracht werden“?

Diese Blindenheilung und all die vielen Wundergeschichten changieren für mich hin und her – zwischen wirklichem Heilungswunder, das Jesus tut, und dessen symbolischen Deutung – seiner Geste der Zuwendung und Heilmachung. Das alles wird mit Absicht so doppeldeutig erzählt, habe ich den Eindruck.

Der Verfasser des Markusevangeliums hat diese Geschichte zum Beispiel zwischen zwei anderen Erzählungen platziert, die von der inneren, geistigen und geistlichen Blindheit und vom inneren, geistigen und geistlichen Sehen der Jünger handeln. So fragt Jesus seine Jünger in der vorangehenden Erzählung: „Versteht ihr noch nicht, und begreift ihr noch nicht? Habt ihr noch ein verhärtetes Herz in euch? Habt Augen und seht nicht, und habt Ohren und hört nicht?“ Und die Erzählung, die unmittelbar an die Geschichte von der Blindenheilung anschließt, handelt davon, wie die Jünger endlich zu Sehenden werden, denen die Augen aufgegangen sind und die nun erkennen, wer Jesus wirklich ist, wenn Petrus in ihrer aller Namen sagt: „Du bist der Christus!“

Die Wundererzählungen haben auch im Neuen Testament schon eine zweifache, eine buchstäbliche und eine symbolische Bedeutung. Sie handeln davon, wie Jesus Menschen hilft, die sich in körperlicher, leibhafter Not befinden, und sie handeln davon, wie Menschen lernen, ihr Leben und ihre Welt im Licht der Heiligkeit, Barmherzigkeit und Liebe Gottes neu zu verstehen, zu erkennen und danach auszurichten … also im übertragenen Sinne aus Blindheit befreit werden und neue Glücksmomente erleben dürfen.

„Er konnte auf einmal alles klar sehen.“, heißt es in der Geschichte. Auch das ist Heilung – klar sehen. Paulus zum Beispiel ist einer von diesen Menschen, Klarsehern, die auf einmal eine Idee davon bekommen, was wäre, wenn man die Blickrichtung wechselt – wir wissen aus dem Christenverfolger wird selbst ein Christ und Missionar. Paulus schlägt einen neuen Weg ein – auch ein Wunder, bei dem einer neu sehen lernt – in der Geschichte sogar im Bild der Blindheit und dem Sehend werden beschrieben.

Solche Wunder würde ich mir auch für so viele Situationen wünschen – und weiß doch genau wie bei den Wundern Jesu damals. Es wird sie nicht flächendeckend geben. Trotzdem werde ich nicht mutlos zu glauben, dass es immer noch diese „Eye-Opener“ gibt – dass Menschen neu sehen lernen können.

Vielleicht ist es oft ein bisschen so wie bei meiner Augen-Operation … Jesus hat mir nicht die Hände aufgelegt und meine Augen mit Speichel benetzt, aber er hat mir einen Menschen geschickt, der etwas von seinem Handwerk verstand. Ich weiß, das klingt in manchen Ohren komisch – und niemand muss das so sehen – aber für mich sind Wunder eben mehr als nur offensichtlich und vordergründig.

Sie geschehen auch oft ganz schön indirekt und sie sind nicht kalkulierbar. Sie geschehen, weil eine besondere Situation eintritt, weil Menschen besondere Fähigkeiten haben, weil etwas wie ein glücklicher Zufall erscheint, weil sich irgendwie ein neuer Weg sich auftut … und manchmal sogar, weil ein Mensch, der nicht geheilt wird, trotzdem das Gefühl hat oder zurück bekommt, heil zu sein so wie Andrea.

Zeichen und Wunder sahen wir geschehen in längst vergangnen Tagen – Gott wird auch unsere Wege gehen, uns durch das Leben tragen. Amen