»Gestatten, mein Name ist … Maria« – Predigt zum 4. Sonntag der Sommerkirche
Lukas 1,46–56
Meine Seele preist die Größe des Herrn,
und mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter.
Denn auf die Niedrigkeit seiner Magd hat er geschaut.
Siehe, von nun an preisen mich selig alle Geschlechter.Denn der Mächtige hat Großes an mir getan,
und sein Name ist heilig.
Er erbarmt sich von Geschlecht zu Geschlecht
über alle, die ihn fürchten.Er vollbringt mit seinem Arm machtvolle Taten:
Er zerstreut, die im Herzen voll Hochmut sind.
Er stürzt die Mächtigen vom Thron
und erhöht die Niedrigen.
Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben
und lässt die Reichen leer ausgehen.Er nimmt sich seines Knechtes Israel an
und denkt an sein Erbarmen,
das er unseren Vätern verheißen hat,
Abraham und seinen Nachkommen auf ewig.
Liebe Gemeinde,
stolz und erhaben steht die Marienkirche seit ungefähr 1000 Jahren im Zentrum dieser Stadt. Stolz und erhaben war sie damals von den Bürgern Osnabrücks gebaut worden, als eigene Kirche, Bürgerkirche. Unabhängig von Dom und Bischof. Erhaben, am Marktplatz der Stadt. Stolz, einen eigenen Prediger anzustellen. Stolz und erhaben.
Wie Maria selbst, die in dem eben gehörten Lobgesang als wahre Prophetin auftritt. Lukas stellt sie damit in die großen Traditionen ihres Volkes, das von seiner Geschichte mit Gott weiß und erzählt. Stolz und erhaben singt Maria von Gottes Heil in der Welt.
Und so, wie Lukas sie beschreibt, welche Worte er ihr in den Mund legt, wundert es mich nicht, dass sie eine steile Karriere unter den Berühmtheiten der Bibel gemacht hat. Eine stolze und fromme Frau, die in Wallfahrten und Kapellen verehrt wird.
Doch heute will ich einen kleinen Schritt Abstand nehmen und hinter die Fassade der hochheiligen Gottesgebärerin schauen. Ich will ein paar Schlaglichter auf ihr Leben legen und gemeinsam mit Ihnen auf die Suche gehen nach der Maria, die so versteckt unter Ikonen und Altären liegt. Nach der Maria, die in ihrem kleinen galiläischen Heimatdorf noch Mirjam genannt wurde.
Mirjam, so viel wissen wir, war ein junges Mädchen. Kaum älter als unsere Konfirmandinnen – so um die 14 muss sie gewesen sein, als sie schwanger wurde. Schwanger. Mit 14. Ohne Heirat, ohne Sicherheiten. Damals wie heute keine reine Freudenbotschaft.
Wie es genau geschah, ob nun der Engel oder der Geist oder ein Mann – das wissen wir nicht. Es ist mir heute auch egal, denn es geht mir um sie. Für sie muss es eine Katastrophe gewesen sein. Schwanger und unverheiratet – ungeplant. Ohne Sicherheiten. Die Leute reden. Die Männer glotzen. Die Frauen tratschen. Und Maria musste da durch. Musste die Blicke ertragen. Das Getuschel, die Blicke; Nachbarn, die einem aus dem Weg gehen und doch ganz genau hinsehen und hinhören. Ein Spießrutenlauf jedes Mal, wenn sie das Haus verließ.
Ob sie sich gefreut hat? Ob sie wirklich einverstanden war? Wie würde Josef, ihr Verlobter, mit dem Kind umgehen? Wie würde es überhaupt werden, mit diesem Kind? Ich stelle mir vor, dass sie haderte zwischen dem Alltag und ihrem frommen Anspruch. Zwischen dem Gerede der Leute und dem Plan Gottes.
Denn Gott hatte es so gewollt. So eingerichtet. War das nicht auch eine große Ehre? Sie selbst – ihr Kind – eingewebt in einen großen Plan, den nur Gott versteht. Da war jemand, der ihr vertraut, ihr etwas zutraut. Großes mit ihr vorhat. Gott – die große Planerin. Sie selbst, Mirjam aus Galiläa, sollte eine wichtige Rolle spielen im Heilsplan Gottes. War es nicht das, was sich alle jüdischen Frauen wünschten? Den Messias zur Welt zu bringen? Wer war sie da, diese Rolle auszuschlagen?
Und sie hielt durch. Das Gerede von außen blieb, die beschwerliche Reise während der Schwangerschaft kam hinzu und dann die Geburt, wie Lukas sie beschreibt: Ihre allererste. In einem Stall, weit weg von zuhause. Zwischen Heu und Stroh. Viele fremde Menschen waren da. Eine seltsame Situation für ein Neugeborenes und seine junge Familie. Und Mirjam, das junge Mädchen aus Galiläa, sog in dieser Nacht alles auf, was sie erlebte: Und Maria behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen.
Und wer weiß, wofür es gut war, dass sie diesen Schatz der Geburtsnacht noch lange in sich trug. Denn das Leben mit diesem Sohn schien nicht nur glorreich gewesen zu sein, wenn wir nach dem gehen, was Lukas erzählt.
I
Als Jesus im Alter von zwölf Jahren die Reisegemeinschaft der Familie unerlaubt verlässt, suchen ihn seine Eltern drei Tage lang überall in und um Jerusalem. Als sie das Kind endlich im Tempel finden, bricht es aus ihnen heraus: Wo bist du gewesen? Warum hast du uns das angetan? Wieso bist du nicht mitgekommen, mit der Sippe? Die Verzweiflung Marias wandelt sich in Wut, gemischt mit Erleichterung. Die Vorwürfe bilden ein Ventil für die durchlittenen Schmerzen der Mutter: Dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht.
Doch Jesus kümmert die Aufregung der Eltern nicht. Seelenruhig sitzt er mit den Schriftgelehrten im Tempel und diskutiert über die Schrift. „Warum habt ihr mich gesucht?“, fragt er. „Wisst ihr nicht, dass ich in meines Vaters Haus sein muss?“ Das hat gesessen. Jesus antwortet gelassen, angriffslustig, fast schon pubertär. Er sieht nicht die Sorgen der Eltern, die Furcht um ihn, ihren Jungen.
Und so geht es weiter: Jesus lebt nicht wie die anderen Jungs. Er heiratet nicht, bekommt keine Kinder. Vielleicht macht er eine Ausbildung als Zimmermann, bei seinem Vater. Doch auch die gibt er auf, als er mit Mitte zwanzig in die Welt zieht. Er lässt die Familie zurück, geht alleine los. Er beginnt, vom Reich Gottes zu reden und sucht sich Freunde und Unterstützer gegen das politische System.
II
Wie Maria das erlebt hat, wissen wir nicht. Sicher ist: Jesus ist fort. Nicht mehr in der Nähe. Als Jesus mit seinen Jüngern in der Nähe unterwegs ist, geht sie einmal hin. Nimmt seine Geschwister mit und will ihn sehen, mit ihm sprechen. Ihm einfach nahe sein. Doch er ist umringt von Menschen. Sie kommt nicht an ihn heran. Und als zu ihm durchdringt, dass seine Mutter da ist, weist er sie ab. Er will nicht mit ihr sprechen: Wer ist meine Mutter und meine Brüder? Die, die Gottes Wort hören und tun, das sind meine Mutter und meine Brüder.
Das hat gesessen. Blutsverwandtschaft gilt nicht mehr. Mutterschaft gilt nicht mehr. Gemeinsam groß werden und Geheimnisse teilen gilt nicht mehr. Die, die Gottes Wort hören und tun, das sind meine Mutter und meine Brüder.
Ich stelle mir vor, wie Maria diese Worte treffen. Wie sie nicht mehr an ihn herankommt, er ihr mehr und mehr fremd wird. Wie schlimm mag es für eine Mutter sein, dies zu erleben? Immer wieder dringen die Nachrichten von ihrem Sohn zu ihr. Gefiltert und interpretiert von vielen Ohren.
Doch eines wissen sie alle: Er ist ihr Sohn. Er ist zum gesellschaftlichen Gespräch geworden. Die einen sind beeindruckt, haben große Hoffnung in ihn und ermutigen sie, an ihn zu glauben. Die anderen sind empört. Verunsichert, von seinen radikalen Worten. Von seiner neuen Art, die bekannten Worte Gottes auszulegen. Was für einer ist aus ihm geworden, Maria? Das abfällige Urteil über ihren Sohn spricht aus ihren Augen.
Und sie? Maria? Es war klar, dass er sich mit seinen Worten und seinem Auftreten in Gefahr brachte. Es war klar, dass er sie und die ganze Familie damit in Gefahr brachte. Jeder hier wusste, wo er aufgewachsen war. Wer seine Mutter, seine Geschwister und Verwandte waren. Die Leute redeten und Maria musste es ertragen.
Bis hierher teilen vielleicht viele Frauen das Schicksal von Maria, der Mutter Jesu. Ein Kind, das sich von seinen Eltern entfernt, sich entfremdet von seiner Herkunft, seiner Heimat – das passiert. Das ist nicht schön, aber das passiert. Damit kann man, damit muss man vielleicht sogar rechnen, wenn ein Kind geboren wird, wenn man es großzieht und aufwachsen sieht. Keine Mutter, kein Vater wünscht sich das. Aber es ist auch ein natürlicher Vorgang, dass Kinder erwachsen werden und eigene Wege gehen, die die Eltern unter Umständen nicht gerne sehen.
Doch für Maria wurde es mehr als das. Die Grausamkeit, die sie und ihr Sohn in den letzten Tagen seines Lebens aushalten mussten, übertrifft alles, was die junge Mutter Mirjam in ihren schlimmsten Albträumen befürchtet haben konnte.
In den Tagen vor dem letzten Passafest war Maria wie immer nach Jerusalem gereist. Die Situation hatte sich zugespitzt, die Gerüchte über ihren Sohn überschlugen sich beinahe. Sie musste es sehen, was da vor sich ging. Wollte ihn leibhaftig sehen. Wenn auch nur von weitem. Von gewaltsamen Aktivitäten war die Rede und von politischen Konsequenzen. In Jerusalem war die Anspannung spürbar. Der jüdische Hohe Rat und die politische Besatzungsmacht waren in Aufregung, die Luft war stickiger als sonst.
Es lag etwas in der Luft, das man vermutlich die Ruhe vor dem Sturm nennen konnte. Und sie, Maria, mittendrin. Und dann muss sie erfahren haben, dass sie Jesus festgenommen hatten. Wie mag sie sich gefühlt haben, was mag sie gedacht haben? War sie wütend, wie eine Löwin, die um ihre Kinder kämpft? Oder gelähmt und machtlos, konnte nicht einmal zusehen? Vielleicht auch war sie wirklich folgsam, erkannte den großen Plan Gottes schon jetzt…
Doch so fromm und gläubig sie auch gewesen sein mochte, ich kann mir nicht vorstellen, dass sie ihre Muttergefühle völlig unter Kontrolle hatte. Dass sie nicht mit Gottes großem Plan gehadert hat, in diesem Moment, als sie unter dem Kreuz stand und ihren Sohn schreien hören musste. Maria, die Mutter Jesu, hat an Karfreitag ihren erstgeborenen Sohn verloren. Sie war Teil von Gottes Plan geworden – aber zu welchem Preis? Maria, die Mutter Jesu ist nicht nur die glorreiche, reine, jungfräuliche Gottesgebärerin, als die sie verehrt wird.
Maria, die Mutter Jesu ist eine Frau, die aufgrund von Gottes großem Plan viel erleiden musste. Eine, die das Leben kennt. Die vor Gott gelebt, an ihn geglaubt und für ihn gelitten hat. Damals, als sie schwanger wurde, wusste sie nicht, wie das Leben mit Jesus werden würde. Und wenn sie es gewusst hätte – wer weiß, vielleicht hätte sie zurückgezogen. Gesagt: Ich bin zu jung. Bin nicht die Richtige für diesen göttlichen Plan.
Vielleicht können wir heute von Glück sagen, dass sie nicht wusste, was auf sie zukommen würde – und sich eingelassen hat, auf Gottes großen Plan. Maria, die Mutter Jesu, steht im Lukasevangelium zwischen prophetischem Lobgesang und der Verzweiflung unter dem Kreuz.
Die Verehrung als Heilige kam schnell und hat sich bis heute gehalten. So steht eine Statue der Maria noch heute stolz und erhaben mitten in unserer Stadt, in einer evangelischen Kirche. In einer Kirche, in der seit 1000 Jahren das Wort Gottes verkündet wird, ist sie geblieben. In einer Kirche, die viele Prediger und tausende Gläubige gesehen hat. In einer Kirche, die Kriegs- und Blütezeiten erlebt und überstanden hat, in der Menschen fröhliche und traurige Ereignisse vor Gott gebracht haben. In einer Kirche, in der bis heute Männer und Frauen ihre Geschichten und Erfahrungen mit Gott erzählen und teilen hält sie noch heute die Wacht.
Vielleicht würde Mirjam aus Galiläa sich heute wundern, auf welchen Altären sie steht und um welche Wunder sie angefleht wird. Doch wenn wir diese Mirjam hinter allem Gold und Weihrauch nicht vergessen, hat es gute Tradition, dass auch eine evangelische Kirche den Namen einer Frau weiterträgt, die etwas vom Leben zu erzählen hat.
Amen.
Vikarin Katrin Koelmann
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