Predigt am 2. Advent

Der 2. Advent ist sozusagen der ungemütlichste der Adventssonntage. Von alters her stehen Texte im Mittelpunkt, in denen es um den kommenden Tag Gottes, den Jüngsten Tag geht. Heute im Hebräerbrief, geschrieben an eine judenchristliche Gemeinde der allerersten Jahre. Für die ist klar: Jesus kommt bald wieder, und er hat dann das Gesicht des von allen Juden erwarteten Messias.

Predigttext: Hebräer 10,23–25

Lasst uns festhalten an dem Bekenntnis der Hoffnung und nicht wanken; denn er ist treu, der sie verheißen hat; und lasst uns aufeinander Acht haben und uns anreizen zur Liebe und zu guten Werken und nicht verlassen unsre Versammlungen, wie einige zu tun pflegen, sondern einander ermahnen, und das umso mehr, als ihr seht, dass sich der Tag naht.

Liebe Gemeinde!

„… und das umso mehr, als ihr seht, dass sich der Tag naht.“ Die hier Angesprochenen sehen einen Tag – anders als ihr Alltag. Niemand hat ihn schon erlebt, in keinem Adventskalender steht er vorgemerkt. Es ist nicht unser Tag, sondern Christi Tag, wenn er wiederkommt, um die Welt endgültig zu Recht und Frieden zu bringen und damit zur sichtbaren Herrlichkeit Gottes.

Und wir sind hier am 2. Advent, um sehen zu lernen, wie die frühen Christen, die Geschwister vor 2000 Jahren sehen konnten. Die hatten eine unbändige Hoffnung darauf, dass Christus wiederkäme – und im Ausblick darauf sahen sie einen Vorschein der Herrlichkeit Gottes. So geht adventliches Leben, Leben auf die Ankunft Jesu hin. Wir Heutigen, wir deuten diesen Vorschein der Herrlichkeit ja noch an mit unseren Adventskerzen, mit dem glitzernden Schmuck am Tannenbaum dann.

Was sahen sie da, die ersten Christen, die im Judentum aufgewachsen waren, die ihre Bibel, das Alte Testament, gut kannten?  Es ist kein einheitliches Bild. Es scheint in der Natur der Sache zu liegen, dass die Bibel gleichsam ins Stottern gerät, wenn sie die kommende Zukunft Gottes beschreibt, wenn sie vom „Jüngsten Tag“, vom Kommen des Messias, oder eben vom kommenden Tag Christi spricht.

Gegensätzliches scheint zu seinem Wesen zu gehören: Amos sieht ihn als Finsternis und gar nicht als Licht. Jesaja schildert eine Idylle, einen Tierfrieden gar: Wolf und Lamm beisammen! Maleachi spricht vom Feuer eines Schmelzofens, von der ätzenden Lauge einer Wäscherei. Jesus selbst kann von einem Tag des Gerichts reden, an dem es Sodom und Gomorrha erträglicher ergeht als jenen Städten, die die Boten Jesu abgelehnt haben. Für die Jünger aber naht die Erlösung und das Essen und Trinken mit dem Meister, das große Hochzeitsfest. Vom Ende der Welt ist in der Bibel die Rede, von den Wolken, die den „Menschensohn“ herbeitragen, vom Licht, das dem Volk scheint, das in der Finsternis wandelt, von der Auferstehung der Toten und von Posaunenmusik.

All das  – und all das zusammen – übersteigt unsere Vorstellungskraft. Zum Glück mahnt unser Text nicht, wir sollten uns diesen Tag vorstellen! Aber es geschieht doch so eine Art innere Ausrichtung auf die letzten Dinge, den letzten Tag: „Lasst uns festhalten an dem Bekenntnis der Hoffnung und nicht wanken; denn ER ist treu, der sie verheißen hat.“

Der Briefschreiber drängt uns, nach vorne zu schauen, vorwärts zu gehen, dem kommenden Tag entgegen. Und dabei weist er uns aneinander und an die Welt: „Und lasst uns aufeinander Acht haben und uns anreizen zur Liebe und zu guten Werken; und nicht verlassen unsere Versammlungen, wie einige zu tun pflegen, sondern einander ermahnen, und das umso mehr, als ihr seht, dass sich der Tag naht.“

Hoffnung und Liebe, Gemeinschaft untereinander und  das Tun des Richtigen nach außen, alles das lebt vom Sehen des kommenden Tages Christi. Sehen nun nicht in allen Einzelheiten, aber doch ein Wahrnehmen: Da vorne wird es hell. Was ich erhoffe, das sehe ich ja sozusagen schon mit meinem inneren Auge – und das setzt mich in Bewegung.

Unsere Lähmung allenthalben, und Lahmheit als Christenmenschen, als Kirche, das hängt zusammen damit, dass wir nicht mehr so sehen wie die frühen Christen. Wir sehen unseren Alltag, wir sehen unsere Belastungen, wir sehen die Krise der Kirchlichkeit, wir sehen die Bilder vom Elend der Welt, wir sehen Dunkelheit. Den kommenden Tag Christi und sein Licht nehmen wir nicht wahr. Und da hilft es wenig, zu appellieren gegen die Lähmung und gegen die Angst und gegen die Überlastung und gegen die Resignation, wenn wir nicht erst einmal versuchen, dieses Sehen zu lernen.

Den kommenden Tag sehen, den Tag kommen sehen: Jetzt im Winterhalbjahr ist das ja eigentlich einfacher als im Sommer, wo man schon arg früh aufstehen muss, um das mitzuerleben: Wie aus dem Dunklen langsam Konturen sich abzeichnen, wie dann ein Streifen am  Himmel leicht rosa wird, dann (und dann ist ja eigentlich schon richtig hell) die Sonne aufsteigt… Schön ist das, und trotzdem nehmen wir’s oft nicht wahr, sind in Gedanken schon bei den ersten Papieren auf dem Schreibtisch, der Mathearbeit, die dran ist, der ersten stressigen Besprechung oder dem ersten komplizierten Werkstück.

Wie viele Sonnentage im Jahr kommen, ohne dass wir sie nahekommen sehen. Wie viel lenkt uns ab, nimmt unsere Wahrnehmung anderswo gefangen. Manchmal, da lassen wir auch Rollos runter und wundern uns, warum es so dunkel ist. Verschlafen den Sonnenaufgang.

Wer den kommenden Gottestag sehen will, der muss früh aufwachen, aufstehen, Ausschau halten und sich nicht von allem möglichen ablenken lassen. Mitten in der Dunkelheit der Welt, mitten in unseren eigenen dunklen Gedanken müssen wir aufstehen. Da brauchen wir jemand, der oder die uns schüttelt und sagt: He, lasst das Dösen, ihr Christenmenschen, ihr in euer gemütliches Bett Verkrochenen, vielleicht auch mit der Decke über dem Kopf aus Angst vor all dem Schrecklichen da draußen! Wollt ihr nicht einfach mal nachsehen, wie es draußen hell wird? Wollt ihr nicht mal schauen was da los ist? Der Jüngste Tag ist los! Das ewige Leben ist los! Das Himmelreich ist im Kommen!

Sicher: Wer dann aufsteht, steht noch im Dunklen. Ja, wenn es schonrichtig  hell wäre! Dann würden wir aufspringen und loslaufen. Aber da ist erstmal nur der kleine Streifen am Horizont. Da ist erst mal nur die Verheißung vom Aufgang der Sonne, die Hoffnung auf das Kommen der Herrlichkeit Gottes.

Wer schon ein bisschen das neue Sehen gelernt hat, wird vielleicht auch mitten in der Dunkelheit einen Stern sehen, den Morgenstern, der anzeigt: „Die Nacht ist vorgedrungen“, sie dauert nicht ewig, der Morgen kommt! Im Bild vom Morgenstern hat man oft von Jesus geredet und gesungen: Mitten noch in der Dunkelheit das Licht des Gekommenen, das hinweist auf den Kommenden; der Morgenstern, der hinweist auf den unaufhaltsam kommenden Tagesanbruch.

Und weil der kommt, und weil wir ihn mit unserem inneren, unserem Hoffnungsauge schon sehen, können wir überhaupt hinausschauen in die dunkle Welt und auch losgehen in diese Welt – in der Hoffnung darauf, dass der treu ist, der die Verheißungen gegeben hat. Durch die Nacht auf die Sonne zu, durch die Dunkelheiten der Welt auf die Herrlichkeit Gottes zu.

Nun könnt ihr fragen: Wo bleiben die jetzt anderen, die dunklen Bilder von diesem Jüngsten Tag? Die apokalyptischen Bilder, die die Bibel malt, auch Jesus, und die uns Heutigen durch die ökologischen und kriegerischen Bedrohungen wieder neu verständlich sind? Wie verhält sich das Schöne und Lichtvolle zu dem Schrecklichen des kommenden Tages?

Ich denke, so: Mit unserer Weltgeschichte, auch mit unserer eigenen Lebensgeschichte, ist es ja doch anders als mit dem täglichen Kreislauf der Natur, wo auf die Nacht ganz selbstverständlich der Morgen folgt.

Wenn Christus die Herrlichkeit Gottes über alle Welt hin leuchten lässt, dann gibt es eine Voraussetzung: Alles Widergöttliche, alles Widermenschliche, alles Böse, alle Gewalt muss grundsätzlich ein Ende finden. Was schlimm ist für die Schöpfung, die Menschen, muss vernichtet werden: Weltweit – und bei mir und dir.

Alles, was den Tod fördert, darf keine Macht mehr haben. Darum ist öfter die Rede vom Gericht – dem Zurechtbringen der Welt. Das ist dann eine Katastrophe für alles Unrecht, alles Falsche, alle Unmenschlichkeit, alle Unterdrückung, allen Unfrieden. Es gibt viele Facetten davon – und das alles will genau angeschaut und eben gerichtet sein. Und da geht es nicht nur um die Schreckenstaten der IS oder die Diktatur in Nordkorea.

Nein, es geht um all das, was uns daran hindert, freie Menschen zu sein, alles, was die Schöpfung zu zerstören droht – all das muss ein Ende haben. Und dazu gehört die Besessenheit von militärischer Macht genauso wie die Verstrickung in dieses üble „Immer-Mehr-Haben-Wollen“, das Festhalten an den Privilegien der reichen Welt genau wie der lausige Streit zwischen Nachbarn.

Ohne die Zerstörung all diesen Unsinns – wie sollte es hell und herrlich werden in der Welt? Der kommende Tag ist darum auch ein Tag des Untergangs dieser Welt, in der wir uns eingerichtet haben – und kann erst so ein Tag der Freude sein über all das Schöne, das Neue, das kommt.

Die Hoffnung bekommt recht, die Träume werden wahr und die Sanftmütigen gewinnen das Land. Darum „lasst uns festhalten an dem Bekenntnis der Hoffnung und nicht wanken; denn ER ist treu, der sie verheißen hat.“

Noch eins aus unserem Brieftext zum Schluss: Dieses „Festhalten an der Hoffnung“ wird nicht gehen in der Isolation, das wird nicht gehen für den Einzelnen oder die Einzelne, die so vor sich hin ihren Glauben zu haben meinen. Das „Festhalten“ braucht viel Energie. Und die, so unser Briefschreiber, wird nur freigesetzt in der Gemeinschaft all derer, die es genauso wie ich versuchen: Glauben und Hoffen und Lieben.

In der Gemeinschaft derer, die sich gegenseitig schon einmal wecken und aufmerksam machen auf die Streifen Morgenröte, die ich als Einzelner eher verschlafe. Die Gemeinschaft derer, die sich trauen, auch schon mal im Dunklen loszugehen im Vertrauen darauf, dass es hell wird. Die in aller Vorläufigkeit sich auch mal trauen, das Richtige (die „Guten Werke“) zu tun. Die Gemeinschaft derer, die sich dann auf dem langen Weg auch gegenseitig immer wieder Mut machen.

Darum ist hier die Rede von den „Versammlungen“, die es zu stärken gilt. Wer sie verlässt, schwächt sich selbst, aber auch die anderen, die Gemeinschaft derer, die da im Dunklen unterwegs sind auf der Suche nach Gottes Licht. Noch tappen wir durch die Welt mit nichts als den kleinen Adventskerzen. Darum brauchen wir einander: „Lasst uns aufeinander Acht haben und uns anreizen zur Liebe und zu guten Werken.“

In der Gemeinde, dieser kleinen, oft genug verschlafenen Gruppe, finden wir immerhin die, die sich noch nicht ganz unter die Bettdecke geflüchtet haben, finden Ermutigung, neue Ideen, Stärkung, im besten Fall Hoffnung und Glauben.

Oder, noch besser gesagt: Indem wir uns anspornen, indem wir uns gegenseitig mitnehmen auf den Weg in die Zukunft Gottes, werden wir Gemeinde, adventliche Gemeinde. „Und das umso mehr, als ihr seht, dass sich der Tag naht.“

Amen.

Pastor Günter Baum