Predigt am 1. Advent

Liebe Gemeinde,

es ist Frühjahr in Jerusalem und es herrscht ein geschäftiges Treiben in den Straßen. Von überall her kommen Pilger in die heilige Stadt. Eigentlich ist alles so wie immer, könnte man meinen, doch es liegt etwas in der Luft… Es ist kurz vor Pessach und es sind mehr Pilger als normalerweise, die den langen Weg zum Tempel extra für den Feiertag auf sich genommen haben.

Vielleicht ähnelt das Treiben in Jerusalem in dieser Zeit ein wenig dem weihnachtlichen Trubel, den wir von der letzten Woche vor dem Heiligen Abend kennen: Noch eben schnell müssen Dinge besorgt werden, es wird festliches Essen zubereitet, für die Familie, die weit angereist ist. Man trifft alte Bekannte und Verwandte wieder, die nur zu diesen Feiertagen in der Stadt sind. Die Stimmung ist fröhlich, aber auch angespannt. Die Luft flirrt, denn die Erwartungen an das Fest sind hoch.

Und plötzlich, in Jerusalem, da tut sich etwas. Die Menge wird erst ruhiger, dann hektisch, man versucht zu sehen, was los ist, und dann bricht ein Begeisterungssturm aus! Das soll er sein, Jesus, der Prophet, von dem alle schon irgendwie gehört haben. Er reitet auf einem Esel in die Stadt. Seine Freunde, die Jünger, sind bei ihm, sie haben ihre Kleider auf den Esel gelegt, damit Jesus bequemer reiten kann. Und die Menge? Sie beginnt zu jubeln und zu rufen, zu klatschen und zu singen. Die Menschen sind aufgeregt… plötzlich ist richtig was los in der Stadt!

Wenn ich mich in die Szene hineinversetze, kommt mir die Situation bekannt vor. Unweigerlich erinnert mich das Bild der jubelnden Menge an den letzten Sommer, als in Deutschland Massen von Menschen den neuen Weltmeistern am Brandenburger Tor zugejubelt haben. Schon bei ihrer Ankunft am Flughafen wurden die Fußballer von vielen Fans in Empfang genommen. Ihre ganze Reise von Brasilien nach Berlin wurde dokumentiert und von klatschenden Menschen begleitet, bis zum Höhepunkt – der Weltmeisterfeier am Brandenburger Tor. Endlich, so mögen manche gedacht haben: wir sind wieder wer. Da kommen sie, unsere Helden, die uns einen Namen in der Welt gemacht haben. Sie ließen sich feiern, auch hier wurde gejubelt und es wurden Gesänge angestimmt. Ob Manuel Neuer oder Philipp Lahm – du bist unser Held! Einer von uns! Machst uns zu Weltmeistern! Jubel, Trubel, Heiterkeit – in Berlin scheinbar genau wie in Jerusalem.

Ich finde es selbst ein wenig komisch, dass mich der biblische Text vom Einzug Jesu an den Empfang der Weltmeister erinnert. Dort, in Jerusalem war sicher alles viel kleiner und keiner der Menschen hatte sich darauf vorbereitet, dass Jesus so nach Jerusalem kommt. Vielleicht war nicht einmal sein Name großartig bekannt, geschweige denn sein Gesicht. Bei Jesus weiß nicht jeder sofort, wer dieser Mensch auf dem Esel ist und trotzdem ist der Jubel ähnlich groß. – Wegen eines Mannes, der auf einem Esel nach Jerusalem reitet?

Bei den Frommen unter den Schaulustigen wirkt dieses Bild sofort. Er kommt nicht auf einem hohen Ross, nicht mächtig, und gebieterisch, sondern bescheiden, sanftmütig und freundlich, auf einem Lasttier. Die jubelnden Männer und Frauen erinnern sich an die Worte, die der Prophet Sacharja einmal gesagt hat: Sag Jerusalem, der Tochter Zion, dass eines Tages der neue König auf einem Esel sanftmütig und freundlich zu ihr kommen wird – auf einem Esel und auf einem Lasttier. Und der Funke der Begeisterung springt über auf die aufgeregte Menge. „Ein König!“, raunt es durch die Menge. „Ein neuer König? So?“ „Der neue König?“, fragen einige verwundert zurück. „Sieh nur, das ist der Prophet aus Nazareth! Wie ein König wird er empfangen!“ – Die Menge jubelt und ist begeistert. Langsam verstehen sie und lassen sich mitziehen. Auch sie legen ihre Kleider ab, um Jesus einen Teppich zu legen. Die jubelnden Menschen am Straßenrand wollen ihm die Ankunft so angenehm wie möglich machen. Mit Palmwedeln, die sie gerade von den Bäumen gehauen haben, wedeln sie ihm zu. Die Menge bildet eine Gasse, durch die Jesus reiten kann. Es ist ein eindrucksvolles Szenario, die Leute klatschen und jubeln, sie rufen ihm zu, mit Sprechgesängen tönt es: Hosianna, dem Sohn Davids! Hosianna!

Da sind Menschen in Jerusalem, die lassen sich begeistern. Sie sind berührt von einem Mann, den die meisten wohl nie zuvor gesehen haben. Was also ist es, das ihn so besonders macht? Wer ist dieser Jesus, der da auf dem Esel in die Stadt reitet und so begrüßt wird, für die Menge?

Wenn ich mir die biblische Geschichte so ansehe, dann fällt mir auf, mit welcher Selbstverständlichkeit Jesus die Prophezeiung der jüdischen Schriften für sich in Anspruch nimmt. Er selbst ist es, der entscheidet, das Wort aus Sacharja Wirklichkeit werden zu lassen. Er nimmt dafür in Kauf, seine Jünger zum Diebstahl anzustiften bzw. sich den Esel und das Füllen „auszuleihen“. Er gibt klare Handlungsanweisungen und es ist schon erstaunlich, mit welcher Routine die Jünger seine Weisungen befolgen. Sie vertrauen ihm voll und ganz. Und Jesus selbst inszeniert sich wie der erwartete König. Er ist sich bewusst, was er damit auslöst, als er die Schrift so deutet. Ob seine Jünger verstanden haben, was passiert, wissen wir nicht, aber er konnte sich sicher sein, dass sein Auftritt nicht folgenlos bleiben würde. Jesus will als dieser angekündigte König auftreten und hat keine Scheu, diese Rolle auszufüllen. Das finde ich gleichermaßen beeindruckend und seltsam. Will Jesus provozieren? Ist er ein Hochstapler? Will er bejubelt werden? Und wie passt das zu dem Jesus, der wenige Tage zuvor Kranke heilt und dazu aufruft, demütig zu dienen?

In Jerusalem haben viele der Schaulustigen sicher vor allem von den Dingen gehört, die Jesus getan hat. Zuletzt war er in Galiläa unterwegs und tat wunderbare Dinge – im wahrsten Sinne des Wortes. Dieser Jesus, so sagen einige, der hat Blinde geheilt, dass sie wieder Augenlicht hatten. Sie konnten wieder selbstständig umherlaufen und ihre Arbeit tun. Andere, die aussätzig waren, mussten vor den Toren der Stadt hungern, weil sie sonst andere anstecken konnten. Bis Jesus kam – er hat sie von ihrer Krankheit befreit und sie konnten wieder zu ihren Familien zurückkehren. Viele sahen in ihm den Propheten, der sich nun in Gottes Auftrag gegen die Unterdrückung und Ausbeutung der Landarbeiter einsetzte. Endlich war wieder jemand da, der Gottes Recht durchsetzte gegen die Politik Roms und den Mächtigen die Stirn bot. Für diese Menschen ist Jesus ein Retter in der Not. Ein Prophet, der ihnen zeigt, dass Gott auf ihrer Seite steht. Sie erkennen in ihm den Mann aus den Erzählungen der anderen und lassen sich anstecken vom Jubel. Wird er alles anders machen?

Vielleicht ist er es ja tatsächlich, der neue König, von dem die Propheten schreiben. So weit gehen offenbar auch viele, die Jesus zujubeln. Ein König in der Tradition Davids – das ist es, worauf alle schon so lange warten. Ein König, der von Gott beauftragt ist, Recht und Ordnung zu schaffen. Ein König wird es sein, so heißt es, der allen anderen Mächten ein Ende setzt. Eine neue Herrschaft wird es geben, wenn er kommt, der Messias. Er wird die Welt zum Guten wenden, wie es in der Schrift versprochen wird. Wird er es sein? Viele Menschen in Jerusalem setzen diese Hoffnung auf Jesus. Sie empfangen ihn mit Palmwedeln, säumen seinen Weg und jubeln ihm zu. Plötzlich scheinen sie sich sicher: Er wird es sein, den die Propheten ankündigen: Der Messias, aber einer von ihnen. Er wird es sein, ein Gottgesandter König, der sanftmütig und friedlich herrscht.

Manche haben sicher skeptisch von weitem dem Trubel um Jesus zugeschaut. Andere setzen all ihre Hoffnung auf ihn und können gar nicht glauben, was geschieht. Wieder andere fühlen sich bestätigt in ihrem langen Warten auf Gottes Gerechtigkeit. Und wenige Tage später zeigt sich dann auch, wie schnell die Stimmung wieder wechseln kann: Dann steht das Volk Jerusalems wieder auf der Straße, diesmal vor Pilatus. Wieder rufen sie laut, doch diesmal wollen sie seinen Tod.

Doch heute, am 1. Advent erleben wir den biblischen Text weder als Beginn der Leidensgeschichte noch als Teil der jubelnden Menge. Wir hören die Geschichte vom Einzug nach Jerusalem als Auftakt des Kommens Jesu in diese Welt. Dass Gott Mensch wird und in Jesus zu uns kommt, das feiern wir an Weihnachten. Die Krippe, in der er liegen wird, ist an diesem Tag für manche vielleicht genauso weit weg wie für die Menschen in Jerusalem das Kreuz, an dem Jesus stirbt. Und doch: Jesus kommt. Und auch wir erwarten etwas von dieser adventlichen Zeit. Denn Jesus kommt. Und egal, ob wir als Zuschauer in Jerusalem ganz vorne stehen und jubeln, oder ob wir unsicher sind, was dieser Mensch auf dem Esel mit uns zu tun hat, Weihnachten kommt auch für uns.

Die Menschen in Jerusalem haben unterschiedliche Erwartungen und Hoffnungen an Jesus, der auf dem Esel zu ihnen reitet. Sie sehen in ihm einen Propheten, einen König oder vielleicht auch einen Hochstapler. So oder so, sie lassen sich anstecken oder provozieren von seinem Auftritt.

Und auch wir, die wir heute hier sind, sind aufgerufen, uns zu verhalten. Die Menschen, die in Jerusalem jubeln, nehmen Jesus in ihre Mitte. Sie wollen, dass er einer von ihnen ist, sie wollen zu ihm gehören, wie die jubelnden Massen am Brandenburger Tor. Genau wie die Fans mit ihren Spielern identifizieren sie sich mit Jesus aus Nazareth. Er ist ihr Meister der Welt, weil sein Handeln etwas mit ihnen selbst zu tun hat. Es lässt sie nicht kalt, sie erwarten etwas von ihm. Dass Jesus wie ein solcher WM-Held bejubelt und begrüßt würde, wäre heute keinesfalls noch selbstverständlich. Und ich frage mich, welche Erwartungen wir wohl heute noch an Jesus hätten, wenn er zu uns käme? Wo würden wir uns positionieren, wenn Jesus auf einem Esel in die Stadt reiten würde? Würden wir jubelnd und klatschend seinen Weg begleiten? Oder würden wir skeptisch und kritisch betrachten, was da vor sich geht?

Die Menschen in Jerusalem, die Jesus zujubeln, die lassen sich anstecken von Jesus. Die in ihm den neuen König, den Messias sehen, das sind Menschen, die sich verändern lassen von der Hoffnung auf eine bessere, gerechtere Welt. Wären wir unter denen? Was erwarten wir eigentlich noch von Weihnachten, vom Kommen Jesu? Trauen wir Gott zu, dass er unsere Welt auch heute noch verändern kann? Und was erwarte ich eigentlich von Jesus, wenn er auf die Erde, zu mir kommt?

Der Advent ist eine Zeit der Vorbereitung. Sie bereitet die Ankunft Jesu an Weihnachten vor. Für mich ist der Beginn der Adventszeit heute ein guter Zeitpunkt, um sich in den nächsten vier Wochen einmal auseinanderzusetzen mit den Fragen: Wo stehe ich eigentlich in der Menge in Jerusalem? Direkt vorne, klatschend? Etwas abseits, kritisch? Oder irgendwo dazwischen – hoffend und doch unwissend? Lassen wir uns doch auf die Ankunft Jesu ein und suchen uns einen geeigneten Platz, um zu erleben, was kommt.

Amen.